Bohdan und Iryna „Um unsere Kinder zu schützen, mussten wir alles aufgeben!“
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Bohdan und Iryna „Um unsere Kinder zu schützen, mussten wir alles aufgeben!“
Bohdan und Iryna lebten früher in der Region Luhansk im Osten der Ukraine. Für sie begann der Krieg in der Ukraine nicht erst letztes Jahr, sondern schon lange davor– im Jahr 2014.
Ihre Heimatstadt wurde 2014 vorübergehend von Truppen einer nicht anerkannten Republik erobert, aber nach einiger Zeit von den Streitkräften der Ukraine zurückerobert und wieder unter die Kontrolle der Ukraine gebracht. Doch im Jahr 2022 wiederholte sich die Geschichte – die Stadt wurde von Russen erobert. Nach 44 Tagen unter russischer Besatzung beschloss die Familie, alles zurückzulassen, was sie hatte und ihre Kinder an einen sicheren Ort zu bringen.
Bis 2014 war Bohdan Priester in der Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats. Er hatte gute Beziehungen und genoss ein hohes Ansehen, aber da er am System zweifelte, beschloss er, den Kirchendienst aufzugeben und ein neues Leben zu beginnen. Zu dieser Zeit wurden Gebiete in den Regionen Luhansk und Donezk beschlagnahmt, um prorussische „Volksrepubliken“ zu schaffen. Bohdan lebte 50 km von der Demarkationslinie zu einer solchen Republik entfernt und beschloss sich dem Kampf für die Integrität der Ukraine und die Wahrung ihrer Grenzen anzuschließen. Bohdan hatte keine militärische Erfahrung, absolvierte aber einen Kurs zur Ausbildung von Spezialeinheiten und trat anschließend den Luftlandetruppen der Streitkräfte der Ukraine bei. Schon in dieser Zeit erfuhr Bohdan den realen Krieg, während die ukrainische Regierung weiterhin versuchte, Beziehungen zu Russland aufzubauen, beziehungsweise wiederherzustellen.
Bohdan verbrachte etwa vier Jahre im Militärdienst. Zuhause zog seine Frau Iryna die zwei Söhne fast alleine groß. Im Jahr 2021 dachte Bohdan darüber nach, einen weiteren Vertrag für den Militärdienst zu unterschreiben, hatte aber Zweifel.
„Mir war klar, dass meine Frau während meiner Abwesenheit unsere Kinder fast alleine großgezogen hat“, sagt Bohdan. „Alle schwierigen Erziehungsphasen sind bereits ohne mich vergangen. Wir hatten die Tradition, Familienbesprechungen zu führen, also beschloss ich, meine Frau und meine Kinder um Rat zu fragen“. Früher waren die Kinder nicht dagegen, dass der Vater im Militär dient. Aber dieses Mal sagte der älteste Sohn: „Mach das nicht, es wird einen großen Krieg geben.“ Zu dieser Zeit erfuhr ich auch, dass mein Militärkamerad gefallen war – er wurde 5 Tage vor Vertragsende durch eine Mine gesprengt. Außerdem belastete der Dienst auch meine Gesundheit stark. Und so entschloss ich mich, ins zivile Leben zurückzukehren.“
Im zivilen Leben entschied sich Bohdan für die Landwirtschaft und den Anbau ökologischer Produkte. Anfang Februar 2022 kaufte das Paar viele Hühnerküken und Futter für sie. Und ein paar Wochen später begann der Krieg.
„An diesem Tag stand ich wie immer auf, bereitete das Frühstück für die Kinder vor und plante, sie in den Kindergarten zu bringen“, erinnerte sich Iryna. „Plötzlich rief mein Bruder mich aus Charkiw an und sagte, dass der Krieg angefangen habe. Aber ich habe nicht verstanden, dass es auch uns unmittelbar betraf. Ich beschloss, nach draußen zu gehen und nachzusehen, was los war. Sobald ich die Tür öffnete, hörte ich einen lauten Donner – heftiger Beschuss am Rande der Stadt. Ich bekam Angst und rannte los, um meinen Mann zu wecken.“
Das Paar beschloss, nicht in Panik zu geraten, abwarten und zu Hause zu bleiben. Zumal es notwendig war, sich um den Haushalt zu kümmern. Ihre Heimatstadt wurde innerhalb von 5 Tagen von der russischen Armee erobert. Es wurde vieles zerstört und Menschen starben. Die meisten von ihnen waren Soldaten von beiden Seiten. Aber niemand nahm sich die Zeit, die Leichen von den Straßen zu bergen. Für einige Zeit gab es kein Wasser, keinen Strom und keine Möglichkeit der Kommunikation. Nach der vollständigen Etablierung der russischen Macht in der Stadt bekamen die Einwohner wieder Strom und Wasser, jedoch keine Telefonverbindung. Gleichzeitig war das Leben unerträglich. Geschäfte und Apotheken waren geschlossen, sie wurden nicht beliefert, sodass die Menschen nur noch von den Vorräten lebten, die sie hatten. Bohdan und Iryna mussten ihre kleine Hühnerküken schlachten, um sich und ihre Kinder zu ernähren.
So lebten sie eineinhalb Monate. Dann begannen Razzien in der Stadt. Die Russen durchsuchten ganze Straßenzüge und drangen in jedes Haus ein – auf der Suche nach allem, was in irgendeiner Weise mit der ukrainischen Armee in Verbindung stand. Sie nahmen nicht nur Männer mit, sondern auch Frauen, deren Angehörige zu dieser Zeit im Militär dienten. So begannen Menschen in der Stadt zu verschwinden.
Bohdan und Iryna beschlossen, die Stadt zu verlassen. Wie durch ein Wunder, konnte Irynas Schwester sie telefonisch durch die Menschen in einer anderen Ortschaft erreichen und lud die Familie nach Georgien ein. Sie wagten es nicht, über Russland auszureisen, sie suchten nach einem Weg, auf ukrainisches Territorium zu gelangen und fanden ihn – mit Hilfe von Spezialtransportern. Sie konnten wenig mitnehmen – Dokumente, Ersatzunterwäsche und etwas Essen. Der Weg in die Region Charkiw, wo sie einreisen sollten, schien endlos. Der Bus hielt ständig an verschiedenen Kontrollpunkten, an denen die Menschen gründlich kontrolliert, zum Ausziehen gezwungen und nach Tätowierungen oder anderen Dingen untersucht wurden, die auf eine Zugehörigkeit zu ukrainischen Streitkräften deuteten. Zum Glück wurde nichts gefunden.
Da der jüngste Sohn der Familie eine Behinderung hat, durfte Bohdan das Land verlassen. Dann folgte ein langer Weg nach Georgien und der Versuch, sich dort niederzulassen. Aber es war schwierig in Georgien wirtschaftlich zu überleben – die Mietkosten für Wohnungen waren dreimal höher als das Durchschnittsgehalt. Zudem benötigte der kranke Sohn ärztliche Untersuchungen. Einer der georgischen Beamten bot ihnen an, nach Deutschland weiter zu reisen.
„In Deutschland hatten wir überhaupt niemanden, wir kamen nirgendwo unter“, sagte Bohdan. „Es war Dezember und einige Bundesländer nahmen keine Geflüchteten mehr auf. Es gab auch nirgendwo mehr freiwillige Helfer. Aber wir hatten unterwegs das Glück, Leute zu treffen, die uns weitergeholfen haben. Auch ich selbst habe ständig im Internet nach Hilfsinformationen gesucht. Die Sprache war das größte Hindernis. Ich sprach ein wenig Englisch, aber es half nicht überall. Wir lebten ein paar Tage im Aufnahmelager und dann einen weiteren Monat in einer Abtei. Es gab auch dort Landsleute, die von der deutschen Bürokratie nichts verstanden. Ich musste mich auch um ihre Unterlagen kümmern und ihnen helfen, da sie auf mich zukamen, bis uns durch Zufall eine Wohnung in Oberkochen angeboten wurde. Wir wussten nicht, wohin wir gehen, aber dann wurden wir angenehm überrascht. Die Menschen stellten uns nicht nur eine Wohnung zur Verfügung, sondern kümmerten sich auch um Möbel und sogar um einen Lebensmittelvorrat.“
Nun passt sich die Familie allmählich der deutschen Gesellschaft an. Das Ehepaar weiß immer noch nicht, was es als nächstes tun soll. Zuerst lernen sie Deutsch. Was sie heute am meisten beunruhigt, ist das Schicksal ihrer Eltern, die im besetzten Gebiet geblieben sind und nicht ausreisen können. Aber das Wichtigste ist, dass die Kinder in Sicherheit sind. Sie gehen zur Schule und in den Kindergarten, schließen neue Freundschaften und müssen keine Angst mehr vor lauten Geräuschen und Flugzeugen haben.